Rund um die Corona-Krise sprießen die Verschwörungstheorien derzeit nur so aus dem Boden: Bill Gates ist schuld, die Menschheit soll reduziert werden und eigentlich sind wir eh nur Teil der Matrix. Jeder C-Promi, der etwas auf sich hält, hat da seine ganz eigene Theorie. Ich behaupte: Covid-19 ist ein perfider Plan der weltweiten Agile Community, um dem agilen Arbeiten einen neuen Stellenwert in unserer Gesellschaft zu geben. Wir sind alle Teil des größten agilen Experiments, dass die Menschheit je gesehen hat. Punkt.
Natürlich ist das völliger Quatsch. Dennoch ist es spannend zu beobachten, wie die Bundesregierung als Reaktion auf die Coronakrise in den letzten Wochen und Monaten arbeitete. Es wirkte, als wäre der komplette Beraterstab einem Agile Bootcamp entsprungen: Der erste Shutdown – eine Art Minimum Viable Product – dazu gedacht, der Bevölkerung erste brauchbare Lösungen zu liefern. Danach stetige Weiterentwicklungen – Inkremente – in regelmäßigen, kurzen Zyklen. Die Bundeskanzlerin als Product Ownerin, die die Interessen der extrem heterogenen Anspruchsgruppen zusammenführt und im Entwicklungsteam “Corona-Kabinett + Fachexperten” zur Umsetzung bringt. Selbst regelmäßige Reviews fanden statt. Und auch das Agile Manifest fand sich nahezu deckungsgleich in den Handlungsgrundsätzen der Bundeskanzlerin wieder (Fokus auf die einzelnen Individuen, funktionierende Lösungen, Kooperation, Reagieren auf Veränderung). Unklar ist übrigens, ob Markus Söder den Scrum Master gab. Seine regelmäßigen Hinweise auf Disziplin und Absprachen erwecken zumindest den Eindruck.
Ob die Bundesregierung bewußt und zielgerichtet Agile Frameworks anwendete, werde ich vermutlich nicht erfahren (falls Sie dazu mehr Informationen haben, freue ich mich über Ihren Kommentar). Möglich wäre, dass die Berater der Bundesregierung sich im agilen Arbeiten auskennen. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass die Situation kein anderes Handeln als das Beschriebene zugelassen hat.
Warum ließ die Corona-Situation kein anderes Handeln zu?
Im Rahmen strategischer Führung ist seit den 1990ern von der VUCA-Welt die Rede: volatile, uncertain, complex, ambiguous – im Grunde die perfekte Beschreibung der Corona-Krise. Was ist damit gemeint?
V = Volatil. (Volatility)
Volatilität beschreibt im Allgemeinen die Schwankungsbreite und -intensität innerhalb einer Zeitspanne. Eine hohe Volatilität bedeutet, dass bereits kleine Veränderungen zu großen und unvorhersehbaren Auswirkungen führen können. Es entsteht eine Dynamik mit hoher Geschwindigkeit und großer Veränderungskraft. Grund dafür ist die exponentielle Welt, in der wir Leben – oder nach Frank Thelen auch die 10x Welt.
Am Beispiel Corona: Für Großbritannien, das zunächst auf Herdenimmunität setzte, gibt es Modellrechnungen, wonach der Strategiewechsel nur eine Woche früher bereits 10.000 Menschenleben gerettet hätte.
U = Ungewiss. Unsicher. (Uncertainty)
Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit von Ereignissen nehmen rapide ab. Die exponentielle Veränderungsgeschwindigkeit lässt Wissen und Kompetenzen immer schneller veralten. Damit haben erfahrungsbasierte Handlungsmuster und alte Paradigmen kaum noch Relevanz und Gültigkeit für die aufkommenden Fragen. Der Wert von Strategien sinkt, Planungen sind mit einem höheren Risiko verbunden. Ein fehlendes Gefühl von Bewusstsein und Verständnis für Themen und Ereignisse sorgt für Ungewissheit.
Im Corona-Beispiel: Während das Virus zu Beginn der Pandemie aufgrund seiner Struktur und seines Ursprungs als Lungenvirus eingestuft wurde (SARS-CoV-2 – severe acute respiratory syndrome coronavirus), zeigen Studien inzwischen, dass es sich hierbei um ein Multiorganvirus handeln könnte. Insbesondere bei der Behandlung führt eine solche Erkenntnis natürlich zu fundamental anderen Vorgehensweise und könnte eine Erklärung darstellen, weshalb die Beatmung eines Covid-19-Patienten sogar gefährlich sein kann.
C = Komplex. (Complexity)
In den vielschichtigen Systemen der aktuellen Zeit können Zusammenhänge nicht mehr in einfachen Ursache-Wirkungs-Mechanismen erklärt werden. Es herrscht eine so hohe Vernetzung, dass Veränderungen einzelner Systemkomponenten nicht absehbare Folgen in anderen Systemen nach sich ziehen können. Die Dynamik unserer Systeme multipliziert sich. Zusammenhänge werden unüberschaubar, die Folgenabschätzung immer schwieriger.
Auch dies lässt sich an Corona eindrucksvoll darstellen: Während die Lockdown-Strategie der Bundesregierung als Maßnahme zur Reduktion der Corona-Todesfälle als voller Erfolg zu werten ist, gibt es bislang noch kaum Erkenntnisse darüber, welche gesundheitlichen Folgewirkungen die Strategie auf Nicht-Infizierte hatte und haben wird (z.B. aufgrund verschleppter Krankheiten, häuslicher Gewalt oder psychischer Folgen). Betrachtet man zudem noch die Folgen für die Wirtschaft, könnte in der rückblickenden Gesamtbewertung sogar eine negative Bilanz zu Buche stehen.
A = Mehrdeutig. (Ambiguity)
Ambiguität beschreibt die Mehrdeutigkeit bis hin zur Widersprüchlichkeit von Situationen oder Informationen. Informationen sind kaum mehr eindeutig interpretierbar. Vielmehr entscheidet der Rahmen über die Bedeutung. Diese Ambiguität erschwert die Entscheidungsfindung, die Möglichkeit der Fehlinterpretation steigt.
Die Ambiguität spiegelt sich gerade in seiner extremsten Form in den Finanzmärkten wider. Nach einem kolossalen Einbruch bis Mitte März zeigt sich der DAX inzwischen erholt als wäre die Pandemie längst Geschichte (Stand: 05.06.2020). Aber auch in den Entscheidungen rund um den Einsatz von Community-Masken zeigt sich die Herausforderung der kontextabhängigen Information: Zunächst und unter dem Gesichtspunkt Eigenschutz wurden die Masken in Deutschland strikt abgelehnt. Durch Änderung des Bewertungsmaßstabs hin zu Fremdschutz sind sie inzwischen aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken.
Agiles Arbeiten als logische Konsequenz
Wir fassen zusammen: Über Covid-19 fehlte zu Beginn jegliches Wissen (Uncertainty). Das Wissen, welches innerhalb kürzester Zeit entstanden ist und weiter entsteht, kann naturgemäß nur lückenhaft sein, ist nicht immer vollständig zugänglich und lässt nach wie vor weite Interpretationsspielräume (Ambiguity). Andererseits führt jede Entscheidung unmittelbar zu Auswirkungen von großer Tragweite – entweder weil sie unmittelbar das Wohl und das Leben der Bevölkerung gefährdet, weil sie mittelbar (also durch eine Folgewirkung) Einfluss auf Wohl und Leben hat oder weil sie fundamentalen Einfluss auf die Wirtschaft nimmt (Complexity). Und dennoch ist klar: Ohne Maßnahmen drohen immense Konsequenzen (Volatility).
Für die Entscheider ergeben sich daraus Folgeprobleme: Was ist die eigentliche Zielsetzung? Schutz der Bevölkerung? Gesundheitlich oder auch wirtschaftlich? Wen muss ich schützen? Alle? Für wie lange? Für wie lange ist das machbar? Wann muss ich überhaupt mit Maßnahmen ansetzen? Welche Art von Maßnahmen sind hilfreich? Kurz gesagt: “Nichts genaues weiß man nicht” und trotzdem müssen fundamentale Entscheidungen getroffen werden. Keine dankbare Aufgabe.
Einschub: Entscheidungsfindung zur Methodenwahl im strategischen Kontext
Und so ist aus den Umständen – so meine Vermutung in Bezug auf die Bundesregierung – eine Art agiles Arbeitsmodell entstanden. Es wurden schnell funktionale Lösungen auf Basis des aktuellen Kenntnisstands ausgeliefert. Neue Erkenntnisse wurden kontinuierlich aufgenommen und zeitnah umgesetzt. Das Bewusstsein, dass Fehler passieren werden, war von Anfang an da. Aber wenn schon Fehler machen, dann in einem Rahmen, der es erlaubt, schnell gegenzusteuern. Also ein Prozess der kontinuierlichen Weiterentwicklung, der im Grunde nur dann einen Abschluss finden kann, wenn sich die Kundenansprüche oder die Ausgangssituation grundlegend verändert haben.
Stärken und Schwächen von Agile Frameworks
Letztlich zeigen sich in der Arbeit der Bundesregierung deutlich die Stärken von Agile Frameworks: Sie sind intuitiv und spiegeln das praktische Handeln lebensnah wieder. Als leichtgewichtiger Rahmen sind sie im Grunde die perfekte Antwort auf die Herausforderung der VUCA-Welt und zudem schnell zu erlernen und zur Anwendung zu bringen.
Es zeigt sich aber auch, welche Problem mit agilem Arbeiten einhergehen: Sich Einlassen auf Unsicherheiten, Fehler zu begehen und einzugestehen, ständige Veränderungen zu durchlaufen, sich von eigenen Lösungen zu trennen – das überfordert (aktuell noch) viele Menschen. Aber genau mit dieser Bereitschaft steht und fällt der Erfolg von agilen Vorgehensmodellen.
Nachhaltigkeit erfordert Agile Mindset
Warum steht so ein Artikel in einem Blog zum Thema Nachhaltigkeit? Zum Einen natürlich, weil uns die Herausforderungen der VUCA-Welt durch die exponentielle Veränderungsgeschwindigkeit noch viel häufiger begegnen werden als wir es jetzt zu vermuten wagen. Dies liegt auch darin begründet, dass unsere “Risikogesellschaft” bislang nicht auf nachhaltigen Beinen steht (mehr dazu im Artikel „New World Order“). Zum Anderen aber, weil die Prinzipien von Nachhaltigkeit und Agile sehr eng beieinander liegen (vgl. hierzu Prof. Dr. Rene Schmidpeter: “Warum Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Agilität Hand in Hand gehen”).
Das Learning aus Corona ist, dass wir in unserer gesamten Gesellschaft mehr Agiles Mindset brauchen. Agile muss zum Bildungsauftrag werden.
[…] Vorgehen der Politik in der ersten Welle und damit im ersten Lockdown beinahe als agil bezeichnen (Corona – Ein perfider Plan der Agile Community?!). Aber haben wir wirklich etwas daraus […]
[…] Vorgehen der Politik in der ersten Welle und damit im ersten Lockdown beinahe als agil bezeichnen (Corona – Ein perfider Plan der Agile Community?!). Aber haben wir wirklich etwas daraus […]